Im Nebel kein Wort

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Im Nebel kein Wort

Hitze, kein Wind geht. Laut und hart klingt die Eisenspitze, wenn Dostya ihren Schirm aufsetzt.
Und sie laufen — im Rücken ein Bauerndorf im Dunst eines Nachmittags im Jahre des Herrn.

Eine Welt ohne Krieg.
Eine Welt ohne Maschinen, ohne Strom.
Eine Frau und ein Mädchen auf der Suche nach den Steinen ...
Und ein Himmel voller Sterne.

Die neue Novelle von Frank Hebben.


Hardcover mit Umschlag, 150 Seiten, 17,90 €
ISBN: 978-3-95777-0936
Umschlagbild und Innenillustration: Nikolaj Djatschenko



»Die Schreibe ist sehr dicht, sehr intensiv und ruft starke Bilder in einem wach. Von mir ein herzhaftes: Weiter so, Herr Kollege!«
— Andreas Eschbach



»Im Nebel kein Wort ist genau hundert Jahre nach der Katastrophe von Verdun so nah und so einleuchtend, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft.«
— Karsten Kruschel im Nachwort
Teaser


Α

»Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden
Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?«
— Alexander Solschenizyn

I

Tier; als könne der Wald sie wittern, zieht kalter Wind durchs Gras: Dostya bleibt
stehen. Blätterrieseln, ein Vogel singt – nichts Seltsames. Sie macht die Augen auf,
prüft das Kraut am Wegesrand, die Büsche; und den Schatten der Bäume, bevor sie
weitergeht, einen Schirm als Gehstock, die Eisenspitze klickt auf Steinchen, dann
schlammiger Pfad; freie Wurzeln sind Stufen. Mollig, aber flink, mit festem Gang,
folgt sie dem Weg hinauf, links ein Hang, mit Buchen bestanden, rechts Gefälle,
Gestrüpp.
Je steiler, desto kürzer wird ihr Tritt: einen Fuß vorgesetzt, neben dem Schirm, auf
dessen Griff sie auch das Gewicht des Rucksacks abstützt, klimpernde Schnallen —
danach den zweiten Schritt.
In einer Mulde hält sie an. Trinkt aus der Feldflasche. Lupft ihre Mütze, ihr graues
Haar; reibt den Schweiß weg. Sie bückt sich, zieht Strümpfe und Wollstrapse nach;
ordnet ihren Rock, klopft Dreck aus den Militärstiefeln – ehe sie die Steigung nimmt,
zum Hügel hoch, wo sie oben, auf der Kuppe, fern ins Tal blicken kann: Kornfelder,
Weide, dort grast das Vieh, und der Rauch eines Dorfes. Der Himmel trist. Bergab
bremst sie das Tempo, indem sie ihren Schirm in den Matsch steckt: welkes Laub,
aufgespießt. Schaut auf die Uhr, die leise tickt.
An Stämmen sucht sie die bemooste Wetterseite, hier westlich, also Osten, Süden,
Norden, worauf sie einen Zettel zückt: blutverschmiert, mit Fingerabdruck; ihn
studiert, ins Hemd zurücksteckt und ihren Marsch fortsetzt.
Zweige, Pfützen. Großer Stein. Ein sturmgefällter Baum liegt quer, ein zweiter,
drübergestiegen. Auf einer Rodung rotten Holzstapel, voller Pilze, auch ein
Feuerschwamm – am Gürtel ihre Beiltasche, öffnet sie, zückt das Werkzeug und holt
aus, schlägt den braunen Fruchtkörper ab; etwas Erde, weggepustet, wickelt ihn ins
Taschentuch.
Talwärts zu einem Zaun, sie rastet. Verblühte Gräser, die Stängel knistern: Kamille
und Teufelshaar. Es ist friedlich und still. Dennoch behält sie die Landschaft im Auge, den Nebel; den zitternden Tau in den Spinnweben …
Saatkrähen kreischen davon.
Unter Sträuchern graut der Tag, in Halmen und Ähren, noch unwirklich, als die
Morgenröte hinter den Hügeln aufsteigt, bis das Licht blendet. Dostya kneift ein Auge zu, wobei sie ihren Arm hebt, den Stundenzeiger ausrichtet, den Winkel zur Zwölf halbiert: Nach Süden. Dann wird die Sonne von Wolken verdeckt, und Nieselregen wäscht den Dunst von den Feldern.
Sie spannt ihren Schirm, schultert den Rucksack, geht voran; die Richtung stimmt,
geradewegs auf ein Gehölz zu – niedrige Äste, nasse Blätter, die über den Stoff kratzen und schleifen. Im Freien. Ein Schotterweg, abschüssig und von Rasen, durch Löwenzahn erstickt, der vom Regen entfärbt ist: die Blüten so blass wie die Pusteblumen.
Dostya biegt ab, den Abhang hoch, an einem Gatter entlang. Und plötzlich:
Oh, sagt sie.
Ein Reh. Witternd, die Ohren zucken; das Fell glänzt feucht. Schaut sie an, mit
klaren Augen, ehe es davonspringt.
Und sie steht da und weint.