Später, die künstliche Beleuchtung von New Hope war schon gedimmt, fuhr Süleyman Steiner nach einem anstrengenden Arbeitstag durch die heruntergekommenen Straßen eines der äußeren Bezirke der dritten Unterebene. Diese Ebene war so verratzt, dass die Einwohner sie nur noch den Bottom nannten. In vielen Vierteln funktionierte nicht einmal mehr der Hologramm-Himmel, der den Bewohnern der unteren Ebenen vorgaukeln sollte, im Freien zu leben. Das Problem der fehlenden Tag-Nacht-Beleuchtung hatten die Einwohner des Bottoms pragmatisch dadurch gelöst, indem sie die Hologramme der Reklameschilder bei Nacht dimmten, die die Straßen säumten. Die Gegend des Bottoms, die der Kommissar mit seinem E-Motorrad durchquerte, glich bei Nacht einem Gewirr von Katakomben, die in schummriges Licht getaucht waren.
Die ursprüngliche Bepflanzung, die die Arkologie für ihre unterirdischen Bewohner einst freundlicher gestaltete, war hier längst eingegangen. Der Asphalt der Straße hatte sich schon vor Jahren zurückgeholt, was ihm gehörte. Die Hologramm-Reklametafeln – ein vergeblicher Versuch, die kärglichen und verhärmten Häuserfronten zu verbergen – zeigten Steiner den Weg zum Ming. Wahrscheinlich wurden sie mit illegal abgezweigtem Strom betrieben. Die Polizei unternahm jedoch nichts dagegen, denn für die Orientierung waren die leuchtenden Schilder unverzichtbar. Denn auch die ursprüngliche Straßenbeleuchtung funktionierte schon seit langem nicht mehr.
Im Gegensatz zu den restlichen Bewohnern der Arkologie war Steiner nicht auf die öffentliche Metropolbahn, das Fahrrad oder die eigenen Füße angewiesen. Denn als Polizeibeamter stand ihm ein Dienstfahrzeug auch für den privaten Gebrauch zur Verfügung. Motorisierte Fahrzeuge waren mit wenigen Ausnahmen nur für Notfalldienste wie Polizei, Erste-Hilfe-Dienste oder Feuerwehr zugelassen. Obwohl über vier Millionen Menschen auf dieser Ebene wohnten, die damit etwas weniger als ein Drittel der Gesamtbevölkerung New Hopes ausmachten, traf der Polizeibeamte nur auf wenige Seelen.
Schließlich erreichte Steiner den Block, in dessen Inneren sich das Ming befand. Ohne abzusteigen, rauschte er mit seiner Maschine verbotenerweise durch den Zentralkorridor der Wohnwabe. Über einen Aufzug gelangte er mitsamt Motorrad in den siebten Wabenstock. Dort angekommen, folgte er dem nur spärlich beleuchteten Gangsystem, vorbei an Pennern und Drogensüchtigen. Endlich gelangte er zu einer abgewrackten, in traditionell chinesischen Stil gehaltenen Gebäudefront, über der schief mehrere gelbe Buchstaben hingen, die das Wort »MING« bildeten. Die Schrift bestand richtig oldschool aus LED-Röhren, statt aus einem projizierten Hologramm. Aus energetischer Sicht war das natürlich ein Albtraum. Das war das Ming, das Abbild einer einstigen Hochkultur, die in den Resten ihrer Ruinen vegetierte.
Aus: New Hope: Böses Erwachen – eine Stadt sucht einen Mörder
__________________________ Rien 1
Das Tier war auf eine beunruhigende Art fremd, unwirklich, Rien konnte sich zuerst gar nicht erklären, warum. Er bemerkte, dass es kein Fell hatte, sondern auf eine merkwürdige Art metallisch wirkte. Nicht auf die Art metallisch, wie eine Maschine. Sondern als ob die Kreatur aus einem pulsierenden, biologischen, schon beinahe lebendigen Erz bestünde. Das war definitiv eine Drogennachwirkung, vielleicht auch schon eine Entzugserscheinung. Der Teufel war wahrscheinlich nicht halb so gefährlich wie er aussah, und außerdem handelte es sich dabei sicherlich nur um eine Katze. Es wurde für Rien schleunigst Zeit, das Viech wegzuscheuchen und die Reste seiner Mahlzeit zurückzuerobern. Wenn es so weitergehen würde, dann würde ihm vom Entzug bald übel werden. Bis dahin musste er das Steak verdaut haben, wenn er es nicht wieder auskotzen wollte.
Mit neuer Entschlossenheit griff er beherzt nach dem Tier und hob es auf, um es behutsam an eine andere Stelle zu setzen. Das hätte er besser gelassen. Die Katze/der Tasmanische Teufel/das was-auch-immer wandte sich so kräftig in seinen Armen, dass er es auf der Stelle fallenließ. Sofort sprang ihn die Kreatur an und krallte sich an seinem Pullover fest. Die unerwarteten kräftigen Kiefer bissen Rien schmerzhaft in die rechte Schulter. Er fiel zu Boden und versuchte das Tier mit beiden Armen von sich loszureißen. Aber die Zähne der Kreatur gruben sich nur noch tiefer in sein Fleisch! Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. In ihm keimte der schreckliche Verdacht auf, dass er mit einer Ausgeburt der Hölle zu tun hatte. War das der Bote, der ihm den Tod bringen würde?
Als ob sie seine Gedanken gelesen und Mitleid mit ihm bekommen hätte, ließ ihn die Kreatur los. Verängstigt und sich die blutende Schulter haltend, robbte Rien unbeholfen von dem schwarzen Wesen weg. Obwohl es wahrscheinlich nicht das war, was er im Augenblick vor sich sah, so war das ganz sicher keine normale Katze.
Vielleicht handelte es sich um irgendein grässlich missglücktes Bioexperiment, das aus einem strenggeheimen Militärlabor entkommen war. Er stellte sich das Labor bildlich vor, vollgestopft mit Reagenzgläsern voller Chemikalien, die in den unterschiedlichsten Farben blubberten – hauptsächlich in grün – und in dem sich überall Spulen und Drähte wanden, durch die ungesichert und funkenstobend Elektrizität floss. Alle Wissenschaftler trugen übergroße Brillen und Albert-Einstein-Frisuren, sprachen mit deutschem Akzent und beschäftigten bucklige, mit Narben an den Köpfen versehene Assistenten, die auf Namen wie »Igor« oder »Rasputin« hörten.
In einem solchen Labor war die Kreatur als Experiment gezeugt worden – ein einziger Fehlschlag – und wenn sich nicht einer der Igors oder Rasputins erbarmt hätte und es ohne Wissen des leitenden Professors Todtschlag, einer anerkannte Koryphäe auf seinem Gebiet, in seinem Spind aufgezogen hätte, dann hätte man diese Kreatur wieder genau dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen war: in die Hölle. Doch stattdessen war sie umsorgt worden, und sie war gewachsen und immer größer geworden, bis sie irgendwann zu dem gemeinen, hinterhältigen Biest ausgewachsen war, das sie immer hatte werden sollen und als erstes ihren armen, nichtsahnenden und liebevollen Igor- oder Rasputin-Vater hingeschlachtet hatte. Der ungläubige Ausdruck in seinem Gesicht war herzzerreißend gewesen. Doch er war nur das erste Opfer an diesem Tag, denn die restlichen Igors und Rasputins und verrückten deutschen Wissenschaftler des Labors sollten folgen, ehe die Kreatur zuletzt ihren Schöpfer Professor Doktor Wilhelm Todtschlag gegenüberstand.
Es wurde nie genau geklärt, was an diesem Tag zwischen ihnen passiert war, aber der Professor überlebte unverletzt. Seit diesem Tag wurde die Bestie jedoch unter Hochdruck vom Militär unter Leitung von Professor Todtschlag gejagt.
»Was bist du?«, schluchzte Rien, der Angst verspürte, gepaart mit dem Gefühl, vom Leben ungerecht behandelt zu werden.
Der kleine Teufel musterte Rien aufmerksam. Er leckte sich das Blut von der Schnauze, ehe sich seine zierlichen Beißwerkzeuge abermals bewegten:
»Man nennt mich Nachtmahr. Ich bin ein Alb«, sprach die Kreatur unvermittelt »Du bist in großer Gefahr. Wenn du weiterleben möchtest, dann solltest du in Zukunft auf mich hören.«
Rien verstand gar nichts. Aber plötzlich wirkte seine Hypothese mit Professor Todtschlags Labor gar nicht mehr so abwegig.